Wir brauchen mehr als nur bessere Statistiken
Gert G. Wagner erklärt das von der Enquete-Kommission verabschiedete Wohlstandstableau und die Relevanz dessen Indikatoren. Er macht deutlich das politisch relevante Wohlstands-Indikatoren mehr erfordern als nur bessere Statistiken und das ein Anti-BIP an den Menschen vorbei ginge.
Der Deutsche Bundestag hat Ende des Jahres 2010 eine "Enquete-Kommission" zum Thema "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" eingerichtet, die Anfang letzter Woche einen Vorschlag zur Messung von Wohlstand und Lebensqualität vorgestellt hat. Ausgangspunkt dieser Studien-Kommission (so die deutsche Übersetzung einer Enquete) ist die Tatsache, dass das "Bruttoinlandsprodukt", kurz BIP, seit langem in Verruf geraten ist. Denn es beschränkt sich auf die Messung wirtschaftlichen Wachstums und es wird immer mehr bezweifelt, dass sich daraus Rückschlüsse auf die Lebensqualität ziehen lassen. Und da Wirtschaftswachstum in der Tat mit zunehmender Einkommensungleichheit und Umweltbelastungen einhergehen kann, und dies oft auch tatsächlich zu beobachten ist, muss man sagen, dass das BIP "Nachhaltigen Wohlstand" nicht misst.
Das Ergebnis der Enquete-Kommission hat aber alle enttäuscht, die sich die Abschaffung des BIP und damit gleich die Abschaffung jeglicher Wachstumspolitik gewünscht haben. Ein Anti-BIP wird nämlich nicht vorgeschlagen, stattdessen ein um neun weitere statistische Kennziffern (Indikatoren) ergänztes BIP ("BIPplus"). Aber die Enquete war trotzdem erfolgreich, denn es werden auch bislang nicht diskutierte Maßnahmen ins Spiel gebracht, die dafür sorgen sollen, dass statistische Tatsachen und Indikatoren im politischen Alltag wirklich ernst genommen werden (müssen). So wird vorgeschlagen, dass die Bundesregierung nicht mehr nur einen "Jahreswirtschaftsbericht" vorlegt, sondern jährlich die Entwicklung aller zehn Indikatoren in einem einzigen Bericht, einer Art "Jahreswohlstandsbericht", zusammenfasst. Gewiss: Dieser wird die Welt nicht verändern, aber eine dadurch ausgelöste breite gesellschaftliche Diskussion kann mehr bewirken als ein Anti-BIP.
Mehr als ein Indikator
Die ganze Enquete-Kommission ist - über alle Fraktionsgrenzen hinweg - davon überzeugt, dass nicht ein einziger alternativer Indikator zum BIP sinnvoll ist, sondern ein kleiner Satz von Indikatoren, der den ökonomischen, sozialen und ökologischen Wohlstand und deren Nachhaltigkeit auch im internationalen Kontext darstellen soll. Uneinigkeit gibt es über die Anzahl der Indikatoren (zehn oder nur drei, vier oder fünf?), aber nicht über den Grundsatz. Denn würde man eine Reihe von Teil-Indikatoren auf "einen Nenner" bringen wollen, müsste man die Teil-Indikatoren gewichten. Also die Frage beantworten, wie groß der Einfluss des BIP bzw. Einkommens auf den Wohlstand ist; und wie viel Einfluss Staatsverschuldung, Erwerbstätigkeit, Bildung, Gesundheit, Demokratie, Treibhausgas-Ausstoß, Stickstoff-Überschuss und Artenvielfalt haben. Ganz gleich, welches Gewicht solchen Werten letztlich zugesprochen würde: Eine demokratisch legitimierte Einigkeit darüber kann es nicht geben. Denn über die Bedeutung einzelner Politikfelder wird - unvermeidbar und zu recht - ständig gestritten. Würde ein zusammengefasster Indikator gesetzlich definiert und amtlich berechnet, wäre dies ein zutiefst undemokratisches Verfahren. Deshalb schlägt die Enquete-Kommission mit großer Mehrheit die oben genannten zehn Leit-Indikatoren vor. Jeder Betrachter kann dann nach der Bedeutung, die er einzelnen Werten zumisst, einen Gesamt-Indikator berechnen. Diese "Aggregation" ist heutzutage im Internet problemlos möglich.
Zu den zehn Indikatoren für die Felder "Materieller Wohlstand", "Soziales und gesellschaftliche Teilhabe" und "Ökologische Nachhaltigkeit" in Deutschland kommen neun "Warnlampen". Die Warnlampen leuchten, wenn etwa die Ungleichheit der Vermögensverteilung steigt oder Spekulationsblasen entstehen. Weitere Lampen warnen vor der Verfehlung wichtiger weltweiter Umweltziele. Dies ist gegenwärtig der Fall und die Warnlampen machen dies überdeutlich. Die Mehrheit der Enquete ist sich sicher, dass durch eine größere, wenn auch deutlich begrenzte Zahl von Indikatoren die Öffentlichkeit nicht überfordert, sondern ernst genommen wird. Journalisten sind in der Lage, in ihrer Berichterstattung über Wachstum Schwerpunkte jenseits des BIP-Wachstums zu setzen. Und Fachpolitiker finden konkrete Anknüpfungspunkte statt abstrakter Konzepte.
Wichtig sind der Enquete-Kommission auch zwei methodische "Fußnoten". Zum ersten: Es muss bei der Präsentation der Indikatoren ganz deutlich gemacht werden, wo die Grenzen der Aussagekraft liegen und dass bei einzelnen Indikatoren kleine und kleinste Veränderungen, die nicht statistisch aussagekräftig sind, nicht überinterpretiert werden dürfen. Die dazu notwendigen methodischen Erläuterungen zu systematischen Schwächen und Stichprobenfehlern werden die Öffentlichkeit auch keineswegs verwirren. Vielmehr werden die Indikatoren durch diese Zusatzinformationen erst wirklich aussagekräftig. Die Relevanz einer solchen methodischen Information zeigt sich etwa am Beispiel diverser Armutsberichte, wo kleinste Veränderungen von Armuts-Indikatoren immer wieder Verwirrung in der Öffentlichkeit stiften.
Zum zweiten betont die Enquete, dass eine ganze Reihe statistischer Erhebungen auch in Deutschland verbessert werden sollten, um die Indikatoren möglichst aussagekräftig zu machen und vor allem, um sie aktuell berechnen zu können. Dabei wird ganz besonders auf die Statistiken für Einkommen und Vermögen hingewiesen, die bislang nur mit großen Zeitverzögerungen von zwei Jahren oder mehr vorliegen.
Auch die ökologischen Statistiken können verbessert werden. Dabei sollten, so wurde diskutiert, insbesondere um Im- und Exporte bereinigte Werte berechnet werden.
Empirie zur Relevanz
In einer repräsentativen Blitz-Umfrage bei 1022 Bürgerinnen und Bürgern hat TNS Infratest ermittelt, dass die von der Enquete-Kommission ausgewählten zehn Dimensionen des "Wohlstands" in der Tat lebensweltlich relevant sind und von den Befragten als wichtig angesehen werden. Mit folgenden Fragen wurde die zehn Dimensionen in der Befragung leicht zu verständlich vorgestellt:
"Die Politik kümmert sich ja um viele Bereiche, die sowohl die persönliche Lage der Menschen direkt betreffen als auch die generelle Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Ich nenne Ihnen nun 10 Bereiche und Sie sagen mir bitte für jeden, ob er Ihrer Meinung nach in der Politik in Deutschland eine wichtige oder keine so wichtige Rolle spielen soll. Bitte nutzen Sie dazu eine Skala von null bis zehn. '0' bedeutet, dass der Bereich in der Politik 'gar nicht wichtig' sein soll und keine besonders Rolle spielen sollte. '10' bedeutet, dass der Bereich in der Politik 'sehr wichtig' sein soll und eine sehr große Rolle spielen sollte. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen.
Wie wichtig ist Ihnen, dass die deutsche Politik sich um folgende Themen kümmert:
- Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland
- Die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen
- Die Staatsverschuldung
- dass möglichst viele Leute genug Arbeit haben
- dass die Lebenserwartung der Menschen weiter zunimmt
- mehr Schüler einen weiterführenden Schul- oder Ausbildungsabschluss machen
- dass Demokratie und Freiheit in Deutschland erhalten bleiben
- der Ausstoß von schädlichen Treibhausgasen, die wir produzieren, reduziert wird
- der schädliche Stickstoffüberschuss, den wir produzieren, abgebaut wird
- das Artensterben gestoppt und die Vielfalt der Arten erhalten wird.
Bei den ersten drei Bereichen wurde also keine Richtung vorgegeben, da offenkundig nicht alle Menschen mehr oder weniger Einkommen (als leicht verständlicher und eng mit dem BIP zusammenhängender Bereich), Ungleichheit und Staatsverschuldung wollen. Bei den sieben weiteren Bereichen ist eindeutig, was anstrebenswert ist und deswegen wurde - zur Vereinfachung der Beantwortung der Fragen - eine Richtung vorgegeben.
Das wichtigste Ergebnis ist: wie zu erwarten war streuen die Abgaben sehr deutlich. Zwar gibt fast niemand für die Bedeutung einer Dimension die niedrigsten Werte zwischen null und vier an, aber die Antworten verteilen sich auf die Spanne von fünf bis zehn. Der durchschnittliche Wert für die Bedeutung der zehn Bereiche liegt etwa bei acht. Alle Bereiche werden also als relevant angesehen. Aber es gibt bemerkenswerte Unterschiede zwischen den Lebensbereichen. Das heißt, dass es keinen Sinn macht, wenn man einen Gesamtindikator berechnen würde. Er kann niemals die Präferenzen aller Menschen ausdrücken.
Der niedrigste Durchschnittswert wird für den Bereich "weiter zunehmende Lebenserwartung" gegeben (6,6). Hier könnte sich das Problem zeigen, dass die Menschen wissen, dass zusätzliche Lebensjahre oft mit Krankheit und Leid verbunden sind. Insofern ist die "Warnlampe", die die Enquete für den Bereich Gesundheit vorschlägt, genau richtig gewählt. Diese Warnlampe soll nämlich leuchten, wenn die Zahl der gesunden Lebensjahre rückläufig ist.
Die größte Bedeutung wird der Aussage, dass Demokratie und Freiheit in Deutschland erhalten bleiben zugemessen (Durchschnittswert 9,4). Dies ist ein gegenüber fast allen anderen Bereichen signifikant höherer Durchschnittswert; lediglich die Bedeutung der Aussage, dass möglichst viele Leute genug Arbeit haben reicht daran heran (9.2). Diese beiden Bereiche sind damit die mit Abstand bedeutsamsten. Das Durchschnittseinkommen (so wurde das BIP operationalisiert) liegt mit einem Mittelwert von 7,4 deutlich darunter und auch die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen wird als Thema weniger wichtig genommen. Der Mittelwert von 8,0 ist durchschnittlich. Nicht weit darüber liegt mit 8,3 auch die Staatsverschuldung, die also keineswegs an der Spitze der Bedeutsamkeit liegt. Hingegen von leicht überdurchschnittlicher durchschnittlicher Bedeutung ist die Forderung, dass mehr Schüler einen weiterführenden Schul- oder Ausbildungsabschluss machen (8,5).
Wie zu erwarten war, wird den Ökologie-Indikatoren kein überragendes Gewicht gegeben. Zwar kann die Menschheit bei weiter steigendem Ausstoß von Treibhausgasen und einem Stickstoffüberschuss als Art nicht überleben. Aber dieses Problem liegt irgendwo in der Zukunft und es wird heute von vielen nicht als drängend angesehen. Die Mittelwerte der Bedeutung liegen für die drei Ökologie-Bereiche bei 8,1, d. h. beim Durchschnitt.
Implementation von "BIPplus"
Bessere Statistik allein reicht nicht um dem BIP seine große öffentliche und politische Bedeutung zu nehmen. Um ein über das BIP hinausgehendes Indikatoren-Tableau wirkmächtig zu machen, muss es vor allem auch von der Politik ernst genommen werden. Ob dies geschieht, hängt nicht nur von der sachlichen Aussagefähigkeit der einzelnen Indikatoren ab, sondern auch von dem "institutionellen Umfeld", in das ein solches Tableau eingebettet ist. Die wahrscheinlich wichtigste Voraussetzung für Wirkmächtigkeit dürfte sein, dass das Bundeskanzleramt - am besten im Rahmen einer gesetzlichen Verpflichtung - künftig jährlich zu dem Indikatoren-Tableau in ressortübergreifender Weise Stellung bezieht. Damit wird die Wirtschaftspolitik nicht überfrachtet, sondern relativiert. Und genau darum geht es.
Konsequenterweise sollte ein solcher "Jahreswohlstandsbericht" auch die Stellungnahmen, die zuvor von einschlägigen Sachverständigenräten abgegeben werden, reflektieren. In diesem Zusammenhang sollten die Regierungsberichte und Sachverständigenräte auf ihre Funktionalität geprüft werden. Das betrifft insbesondere den "Armuts- und Reichtumsbericht" (BMAS), den "Kinder- und Jugendbericht" (BMFSFJ), den "Familienbericht" (BMFSFJ), den "Altenbericht" (BMFSFJ) und den "Wohngeld- und Mietenbericht" (BMVBS). Nach Überzeugung etlicher Mitglieder der Enquete-Kommission sollte in diesem Zusammenhang auch die Einrichtung eines unabhängigen "Sachverständigenrats für nachhaltige Lebensqualität" geprüft werden. Dieser könnte mehr Licht in das Dickicht der vielen Berichte bringen: Es läge nahe, zumindest die Regierungsberichte zu "Armut und Reichtum" sowie zum "Wohngeld und Mieten" durch den Bericht des unabhängigen Sachverständigenrats für nachhaltige Lebensqualität zu ersetzen.
Der Beitrag ist eine überarbeitete Version von Beiträgen des Autors, die am 1. Februar in der "Süddeutschen Zeitung" und am 3. Februar 2013 in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" erschienen sind.
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